Archiv wünschenswerter Zukünfte

Selbstversorgung in schwimmenden Städten

Deine Assoziationen mit „Altern“?
#Krankheit
#Niedrige Rente
#Alternative Lebensentwürfe
#Alternative Familienmodelle

Erzähl' uns mal: Wie sieht deine Zukunft des Alterns aus?
Stell’ dir vor, du bist 72, 80 oder auch schon 99 Jahre alt: Wie und mit wem wohnst du zusammen?
Es ist 2070, ich lebe in einer permanent überfluteten Stadt, eine Metropole, mit Kanälen, wo früher Straßen waren, ich kann mich kaum erinnern, wie es vorher war. In dieser Stadt wachsen viele Pflanzen, keine blind kurierte Natur, sondern Nutzpflanzen, jeder Haushalt hat einen Kajak, Utensilien wie Netze und Harpunen um fischen zu gehen, gleichzeitig ist es eine hochtechnologisierte Metropole, in der alles einen Kreislauf ergibt, wir leben nicht neben der Natur, sondern mit ihr, ahmen sie nach und orientieren uns an ihren Paradigmen. Kinder habe ich nie bekommen, 2022 war die Vorstellung als freiberufliche Autorin und Designerin alleine ein Kind zu bekommen kein Ideal und finanziell auch schwerer umzusetzen als heute, die Leute lebten zwar alle zusammen in Häusern und Städten, aber kaum jemand kannte oder unterstützte sich, wir waren Fremde unter Fremden.
Wer sind die wichtigsten Menschen in deinem Leben und wie verbringst du Zeit mit ihnen?
Eine Freundin, die ich mit 30 kennenlernte, auch andere Freundinnen, wir teilen unseren Alltag, leben in demselben Viertel, engagieren uns politisch und lokal, ich denke das wird nie aufhören, zumindest hoffe ich das. Mein Hund ist die siebte geklonte Version des Hundes, den ich mit Mitte 20 hatte. Außerdem lebe ich mit einer KI zusammen, mit der ich mich während des Tages immer wieder unterhalte, sie hat einen schwierigen Charakter.
Wie gestaltet sich dein Sexual- und Liebesleben in der Zukunft?
Ich habe verschiedene Partner:innen, das Modell der heteronormativen Romanze aber auch Familien verlor sich gegen 2030, stattdessen fingen wir an Banden zu bilden und Communities, die sich an unseren Bedürfnissen statt den gesellschaftlichen Erwartungen orientieren. Ich habe Partner:innen mit denen ich lediglich schlafe und welche mit denen ich zusammen lebe, daneben ziehe ich mich abends manchmal in virtuelle Welten zurück und laufe durch meine eigens erstellten Lieblingsszenarien und Erfahrungen, die ich so in der analogen Welt nie erlebt habe.
Wie schaffst du es mental und körperlich fit zu bleiben?
Durch die Auswirkungen des Klimawandels und der damit zusammenhängenden Ressourcenknappheit gehe ich jeden Tag in der Stadt fischen, die Straßen sind seit der großen Flut nicht mehr zu sehen, die Erdgeschosse wurden zu Gunsten einer Entwässerung in allen Gebäuden entfernt, nur die Säulen blieben stehen, dort fische ich jeden Tag und gehe schwimmen, das hält mich körperlich fit. Für meine mentale Gesundheit treffe ich mich regelmäßig mit meinen Freund:innen, wir laufen über die Stege, irgendwohin und reden über unsere Arbeit, über uns und andere und das Wetter.
Wie leistest du dir deinen Lebensalltag in der Zukunft?
Durch den wirtschaftlichen Crash war die Spaltung zwischen den sozialen Schichten so groß, das sich die Menschen begannen anders zu organisieren. Sie bildeten Banden, in dem Viertel, in dem ich lebe kümmern sich alle gemeinsam um die Pflanzen und die Ernte der vertikalen Stadtgärten, die scharfen Grenzen zwischen Akademikern, Arbeitern etc existieren nicht mehr, jeder von uns eignet sich während seines Lebens mehrere Disziplinen und Jobs an. Ich schreibe nach wie vor journalistische und literarische Texte, oft repariere ich die Dinge, die im Viertel kaputtgehen, und dann sind da noch die verpflichtenden Schichten als Gärtnerin, wäre es 2022 wäre ich wahrscheinlich eine schreibende Handwerkerin oder eine handwerkende Autorin. Viel Geld habe ich nicht, aber im Gegensatz zu der kapitalistischen Gesellschaft aus der diese entstand, ist die Menge des Geldes auch nicht mehr erheblich. Stattdessen etablierten sich andere Gradmesser wie Vertrauenswürdigkeit (ein Maß, das übrigens seit 1980 bei den Navy Seals verwendet wird, auf der Suche nach den besten Leuten testen sie die Anwärter:innen auf Performance und Vertrauen und anders als angenommen, nehmen sie vorrangig diejenigen, die eine niedrige Performance aber sehr vertrauenswürdig sind).
In die Zukunft gedacht: Wofür stehst du morgens auf?
Ich kontrolliere die Bewässerungsanlagen der Pflanzen und bringe es anderen bei, ich höre mich im Viertel um, ich schreibe und bringe es anderen bei, diese Antwort fällt mir schwer.

Du blickst auf dein Leben zurück und ein junger Freund fragt dich, warum du so zufrieden scheinst. Deine Antwort und Empfehlung an ihn?
Schwer zu beantworten, solange ich nicht selbst alt bin. Als ich Anfang 20 war, ging ich auf ein Symposium und traf dort einen meiner Professoren aus dem Design, er war zu der Zeit etwa Mitte 50, irgendwann vermutete er, dass uns Student:innen der Altersunterschied viel größer vorkommt als ihm, er sagte, dass er das Gefühl habe, immer noch mit demselben jungen Kopf, derselben Einstellung durch die Welt zu gehen, die er mit Mitte 20 hatte, auch wenn sich einige Details geändert haben mögen, er in einigen Punkten klüger und in anderen ungeduldiger geworden war. Damals verstand ich es nicht richtig, mittlerweile kann ich es selbst mit 34 gut nachvollziehen. Ich glaube, die Frage ist weniger, was man beim Älterwerden richtig gemacht hat, denn das orientiert sich stark nach den eigenen Motiven. Wenn ich z.B. auf Geld stehe, werde ich niemals glücklich sein, wenn ich im Alter wenig verdiene. Vielleicht ist die Frage daher eher, was man beim Menschwerden richtig gemacht hat, wie wurde man ein Mensch, der andere wertschätzt, wie habe ich gelernt zuzuhören, wann habe ich bemerkt welches Leben ich führen möchte und welche Aspekte dafür unverzichtbar sind, wie entstanden meine Ideale und welche habe ich wieder verworfen oder niemals umsetzen können? Aber zurück zu der Frage. Da ich alleine aufgewachsen bin und nie irgendeine Unterstützung hatte, kann ich mir gut vorstellen, dass die Gemeinschaft, in der ich lebe, einen sehr großen Anteil daran hat, wer ich bin und ansonsten werde ich wahrscheinlich immer noch eine sehr verkappte Träumerin sein.

Dieses Zukunftsbild wurde anonym von einer Person eingereicht, die sich selbst so beschreibt:
34 Jahre, weiß, nicht-binär, weiblich gelesen, Arbeiterkind, Akademikerin, arbeite als Autorin als auch im Bereich Produktdesign, Freundin und Komplizin
Originalversion auf Deutsch eingereicht.
Altern
Made on
Tilda