Archiv wünschenswerter Zukünfte

Zugfahren ist wie Kurzurlaub

Lieber Ramón,

Seit wir uns vor zwei Wochen in Koblenz gesehen haben, ist viel passiert: Auf meinem Rückweg nach Lissabon haben ich einen kleinen Umweg über Paris gemacht. Dort habe ich Anke und Alex besucht. Und ich bin das erste mal mit dem klimapositiven Schnellzug gefahren, von dem du mir erzählt hast. Der mit dem bewachsenen Dach und dieser neuen Technologie, die ich noch immer nicht ganz verstehe. Aber du hattest recht: in knapp einer Stunde war ich in Paris und selbst die Fahrt entlang der neuen Naturschutzgebiete fühlte sich an wie ein Kurzurlaub. Die Natur war so atemberaubend und trotz der Geschwindigkeit des Zugs sehr beruhigend und inspirierend. Der Zug war außerdem so leise, dass ich sogar die Wasserfälle rauschen und die Vögel zwitschern hören konnte, die mich während der Fahrt vor meinem Fenster begleiteten.
Paris hat sich ebenfalls verändert: Die Straßen sind ruhiger und grüner, überall sind Menschen, die durch die Parks spazieren und gemeinsam an langen Tischen auf den Straßen zu Abend essen. Jeder ist willkommen und es werden Geschichten erzählt, Musik gespielt und getanzt und gelacht. Jeder Tag fühlt sich an, wie ein Feiertag mit der Familie, selbst wenn man umgeben ist von Fremden. Ich habe viele neue Freunde dazu gewonnen und sogar eine neue Geschäftspartnerin für mein aktuelles Projekt gefunden. Die Frau, bei der ich übernachtet habe, eine Nachbarin von Anke und Alex, hat mir zum Abschied noch einen Setzling ihrer Tomatenpflanze geschenkt.
Als ich schließlich mit dem Zug (dieses mal war es der alte, klimaneutrale Schnellzug, mit dem monotonen Summen der Solarpanels) in Lissabon ankam, hatte ich ein kurzes Déjà vu: als ich damals das erste mal in Lissabon war und vor dem Hostel stand, hatte ich mich erschreckt, als ein Flugzeug ganz tief über meinem Kopf vorbeizog. Obwohl sich das Flugzeug mit einem dröhnenden Geräusch angekündigt hatte, zuckte ich damals kurz zusammen, als es riesig groß zwischen den schmalen Gassen am Himmel auftauchte und so greifbar nah wirkte. Doch nach einigen Wochen hatte ich mich an die tief fliegenden Flugzeuge gewöhnt, die täglich mehrmals über uns hinweg zogen. Jetzt sitze ich auf meinem Balkon – zusammen mit meiner neuen Tomatenpflanze – und der Himmel ist strahlend blau und klar. Kein einziger Kondensstreifen in Sicht. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wann ich das letzte mal ein Flugzeug gesehen habe, geschweige denn an das dröhnende Geräusch... Kannst du dich noch an deinen letzten Flug erinnern? Das muss ewig her sein. Ich vermisse es jedenfalls nicht. Allein die Fahrt von Koblenz nach Paris hat mir so viel Ruhe und Inspiration geschenkt und auf der Strecke durch Spanien hatte ich viel Zeit, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen und all die inspirierenden Begegnungen und Erlebnisse noch einmal durchzugehen. Ich habe so viel gesehen und gelernt und freue mich all das in meine Arbeit einfließen zu lassen.
In drei Monaten soll das Projekt, an dem ich hier arbeite fertig werden und damit endet dann auch meine Reise und ich komme zurück nach Deutschland. Zumindest solange, bis es mich wieder woanders hin verschlägt. Ich hoffe wir sehen uns bald wieder!

Alles Liebe,
deine Eva

Ich erhoffe mir für den Tourismus der Zukunft, dass… er nicht mehr als ein Recht verstanden wird, als Ausbruch aus dem stressigen Alltag (“Ich arbeite 40 Stunden die Woche, ich habe ein Recht auf 2 Wochen Urlaub auf Malle und Nichtstun…”). Sondern als eine bewusste Reise in ein Gastland (oder Gaststadt/ -bundesland), ein Besuch bei noch unbekannten Freunden. Als Erkenntnisbringende Erkundungstour, als Möglichkeit voneinander zu lernen, sich kennenzulernen und auszutauschen.
Wenn ich mir alles wünschen könnte, dann... dann würde ich mich gerne an andere Orte beamen können. Ganz ohne in ein Flugzeug steigen zu müssen, ohne Zeitdruck und finanzielle Einschränkungen, klimaneutral reisen zu können. Mit meinen Eltern in Düsseldorf frühstücken, in Lissabon arbeiten, übers Wochenende Freunde in Neuseeland und Südkorea besuchen und abends mit Nachbarn in Kroatien grillen mit Blick aufs Meer. ...wobei das die Gefahr eines sehr schnelllebigen, hektischen Lebens birgt und ich eigentlich lange Zugfahrten sehr genieße.
Wenn ich ein(e) mächtige(r) Politiker*in wäre, würde ich… kleine Familienpensionen,-hotels, Hostels mit nachhaltigen Konzepten und Unterkünfte in Gastfamilien unterstützen und fördern. Den öffentlichen Nah- und Fernverkehr ausbauen. Nach und nach den motorisierten Individualverkehr, Inlands- und Kurzstreckenflüge, sowie Kreuzfahrtschiffe abschaffen. Kampagnen für Reisen im eigenen Land starten. Parks und andere Orte der Erholung in jeder Stadt ausbauen, Lebensqualität in Städten erhöhen: Menschen könnten den “Erholungsurlaub” in der eigenen Stadt oder zumindest im eigenen Land verbringen. Weitere Reisen wären dann bewusster, mit bestimmtem Ziel und überwiegende per Zug oder Schiff. Flüge wären die eher die Ausnahme und nur für weite Strecken und längere Aufenthalte gerechtfertigt.

Dieses Zukunftsbild wurde anonym von einer Person eingereicht, die sich selbst so beschreibt:
Ich bin 27 und studiere Transformationsdesign an der HBK Braunschweig, bin wegen der Pandemie vor kurzen wieder zu meinen Eltern nach Düsseldorf gezogen und arbeite von hier aus an meiner Masterarbeit und genieße es im Garten mein eigenes Gemüse anpflanzen zu können.
Originalversion auf Deutsch eingereicht.
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